Bedingungen
Keine Methode ist objektiv, und so gilt es auch hier die Faktoren zu bedenken, die zu einer subjektiven Einfärbung und im Extremfall auch zu einer gänzlich unterschiedlichen Bewertung von Kunstwerken führen können. Dies mag in einer demokratisch-liberalen Gesellschaft zur Belebung der Diskussion führen, in autoritären Gesellschaften wird sie dagegen schnell zur Grundlage von Verbot und Vernichtung. Aktuell geht die Interpretation oft auch in die Fixierung des Marktwertes von Kunst ein, legt unter anderem auch deren ideellen Wert fest. Die leitenden Interessen bei dieser Klärung können dabei sehr gegensätzlich sein, sollten aber zumindest bewusst werden.
Der Interpret
Es wäre vermessen von einer Geisteswissenschaft absolute Erkenntnisse zu erwarten. Vielmehr muss durch geeignete Methoden ein hohes Maß an Objektivität und Wahrheit angestrebt werden.
- Interpretationen können das Kunstwerk nicht ersetzen, sondern transformieren es und existieren parallel zu diesem.
- Interpretationen sind immer abhängig vom Erkenntnisinteresse und den Voraussetzungen des Interpreten.
Die Subjektivität der Interpretation ergibt sich aus den individuellen Voraussetzungen des Interpreten, genauer dessen
- Wissen und Kenntniss
- zeitlich aktueller geistiger Verfassung
- Psyche, Unterbewusstsein und Assoziationsfähigkeit
- gesellschaftlichem, politischem, religiösem und weltanschaulichem Standort
- dessen kultureller Sozialisation
Diese Faktoren bestimmen die Aspekte, auf welche sich die Interpretation konzentriert, beeinflussen die Fragestellungen und führen, bewusst oder unbewusst, zu Deutungen und Bewertungen. Der Interpret ist die Verbindung zwischen dem Werk und der Interpretation, kann somit z.B. im Zusammenhang einer Rezeptions- oder Ideologiekritik selbst wiederum interpretiert werden.
Der Künstler
Welche Auslöser und Beweggründe sind für die Schaffung des Kunstwerks verantwortlich, und wie wirken sie zusammen? Was davon war dem Künstler zum damaligen Zeitpunkt bekannt und bewusst? Sind die eigenen Verlautbarungen des Künstlers zu seinem eigen Werk wertvoll, hilfreich, richtig, schlüssig? Darf und muss die Interpretation über das dem Künstler Bewusste hinausgehen, vielleicht sogar seiner eigenen Einschätzung widersprechen? Wie viel Verständnis können wir überhaupt bei einem größeren zeitlichen oder kulturellen Abstand für die Individualität des Künstlers aufbringen?
- Was ist die Darstellungsabsicht des Künstlers, und worin wird sie erkennbar?
- Wie wird die spätere Ausführung vorbereitet? Gibt es klärende Skizzen und Studien, vielleicht auch verbale Äußerungen?
- Lassen sich biografische oder äußere Impulse ausmachen?
- Gab es eine klare Aufgabenstellung, ein Programm seitens des Künstlers?
- Liegt ein Auftrag vor, wenn ja von wem und aus welchem Grund? Handelt es sich eventuell um einen Wettbewerbsbeitrag?
Die Methode
Die Voraussetzung einer jeden schlüssigen Interpretation ist die möglichst genaue Analyse. Sie erfasst alle Elemente, die im Kunstwerk enthalten sind und uns wertvolle Aufschlüsse liefern.
- die einzelnen Bildgegenstände und erkennbaren Orte
- das diese einschließende Thema
- die technischen und bildnerischen Gestaltungsweisen
- die formalen Bildelemente
- die Komposition und deren Elemente
- die Bezüge und Funktionen aller Elemente
Die einzelnen Erkenntnisse werden miteinander verflochten und geben die Strukturen des Kunstwerks wieder. Aus der Gesamtstruktur wird ein Interpretationsmodell entwickelt, das schließlich auf stilistische, historische, gesellschaftliche und psychologische Bezüge eingeht und diese am Werk belegt und klärt.
Kunstwerk und Wirklichkeit
"Dies ist keine Pfeife". Mit dieser augenzwinkernden Provokation verwies Magritte auf die unvereinbaren Unterschiede zwischen einem Objekt und seiner Abbildung. Zu klären ist dennoch das bestimmbare Verhältnis eines Kunstwerks zur Realität.
Es kann sein:
- eine mimetisches, also naturgetreues Abbild einer vorgefundenen Realität
- eine subjektive Interpretation der Realität, die einzelne Merkmale vernachlässigt oder betont, vielleicht gar übertreibt oder verzerrt
- ein Mittel, durch Montage und Kombination von Versatzstücken eine tiefere Wirklichkeit und Wahrheit sichtbar zu machen
- eine pointierte Erfindung mit dem Ziel zu beeinflussen, zu verändern
- eine Wiedergabe einer Vorstellungs- und Fantasiewelt, die sehr real erscheint
- selbst eine neue und von der sichtbaren Welt autonome Realität
Aus der Analyse lässt sich dieses Verhältnis zwischen Kunstwerk und Realität genauer bestimmen und in Beziehung setzen. Gelegentlich enthalten Bildwerke mehrere Realitätseben, die dann wiederum eine neue ergeben. In den meisten biblischen Szenen finden sich solche Koppelungen unterschiedlicher Orte und Zeitebenen. Besonders auch der Surrealismus spielt mit der Gleichzeitigkeit von Traum und Wirklichkeit, und schafft so eine Wiedergabe einer menschlichen Form sich durchdringender Wahrnehmungsebenen. Aber auch im einfachsten Falle, dem der Abbildung, tritt der Künstler in ein bestimmtes Verhältnis zur Realität, indem er ein Motiv auswählt, seinen Blickwinkel und den Bildausschnitt festlegt.
Kunstwerk und Sprache
Visuelle Systeme, und damit auch Kunstwerke, haben eine eigene Sprache. Und kraft ihrer eigenen Ausdrucksmittel die ganz spezifische Möglichkeit Inhalte darzustellen, kommunizierbar zu machen. In diesem Zuammenhang muss man sich darüber Gedanken machen wie sinnvoll es sein soll, die Möglichkeiten eines anderen Mediums nachzuahmen. Eine Interpretation kann das gemeinte Werk nicht reproduzieren, sondern sich diesem im besten Falle nur durch Sprache annähern, da
- Sprache als anderes Medium grundsätzlich nicht in Konkurrenz zu Kunstwerken stehen kann und will
- Sprachelemente semantisch anders besetzt sind
- Sprachmuster zugleich festgelegte Denk-und Bewusstseinsmuster sind
- Sprache selbst wieder interpretationsbedürftig ist?
Weshalb also sollen Kunstwerke im Rahmen einer Interpretation in Wortsprache transferiert werden?
- Weil künstlerische Aussagen oft zu subjektiv, zu fremd und unverständlich sind?
- Weil Sprache vertrauter ist?
- Weil in gesicherten Sprach- und Denkformeln der Betrachter nicht mehr verunsichert und "sprachlos" vor dem Kunstwerk steht, sondern durch bekannte und genormte Begriffe "begreift"?
- Weil kein Mut zum Denken ohne Sprache besteht, die Existenz visueller Intelligenz grundsätzlich angezweifelt wird?
- Weil wortlose Betrachtung nur passiv und rezeptiv wäre, eine sprachliche Transformation dagegen ein aktiver geistiger Prozess der Aneignung?
Gültigkeit
Interpretationen sind immer nur ein Modell der Bildwirklichkeit, und so auch nie absolut zu verstehen. Eher eine Nachschöpfung, teils auch schon eine Neuschöpfung, enstprechend dem Maß, in dem der Interpret seine persönlichen Vorstellungen und Gedanken einfließen lässt und diese über die Bildgegebenheiten hinaus führt, so dass derAusgangspunkt sich mehr und mehr verliert. Besonders in dieser literarischen Form kann es folglich sehr viele mögliche Interpretationen ein- und desselben Kunstwerks geben.
Das einzige Kriterium dafür, wie weit entfernt vom Kunstwerk eine Interpretation noch möglich ist, ist die Stimmigkeit des Modells. Sie ist gegeben,
- wenn die Gegebenheiten des Bildes richtig erkannt und benannt werden
- wenn alle Informationen widerspruchsfrei und zusammenhängend verarbeitet werden
Eine Interpretation wird umso sachlicher, einsichtiger und glaubwürdiger, je deutlicher der persönliche, gesellschaftliche und weltanschauliche Hintergrund, der in den Interpretationsansatz einfließt, bewusst ist und transparent gemacht wird.