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Albrecht Dürer - Melencolia I (1514)

Stich in hoher Auflösung

ALBRECHT DÜRER: "MELENCOLIA I" (1514), Kupferstich

Dürer ist 43 Jahre alt, als er 1514 das Blatt "Melencolia I" sticht. Seit zwei Jahren arbeitet er auch im Auftrag Kaiser Maximilians I. Gemälde entstehen in den Jahren 1513/14 aufgrund der Inanspruchnahme durch die kaiserlichen Aufträge nicht, wohl aber freie Arbeiten: neben der "Melencolia" die mit dieser zu den Meisterstichen zusammengefassten Blätter "Ritter, Tod und Teufel" (1513) und "Hieronymus im Gehäuse" (1514). Da Dürer die "Melencolia" und den "Hieronymus" oft zusammen verschenkt hat, und die drei Stiche nahezu gleiche Formate aufweisen (ca. 25 x 18 cm), hat man früh an einen auch inhaltlichen Zusammenhang gedacht. Der Kunsthistoriker Panofsky nimmt eine "geistige Einheit" an: so scheint der Ritter die vita activa, Hieronymus die vita contemplativa des christlichen Menschen darzustellen, die Melancholie dagegen die rationale und imaginative Welt von Wissenschaft und Kunst.

Der Kupferstich ist und bleibt in seiner Gegenständlichkeit und Deutung rätselhaft. Die Forschung zur "Melencolia" hat unendlich viel Material zum geistes- und ikonologiegeschichtlichen Hintergrund und zur Wirkungsgeschichte hervorgebracht. Ergeben sich dabei Fortschritte in der Aufschlüsselung von Teilbedeutungen, so fügt sich aus ihnen keineswegs zwanglos eine Gesamtbedeutung zusammen. In sich schlüssig entwickelte aber im Ergebnis widersprüchliche Interpretationsansätze bewahrheiten bis heute das Wort Heinrich Wölfflins, der schon 1923 davon sprach, daß die "Melencolia" immer ein "Tummelplatz der Deutungen" bleiben werde.

Die Probleme beginnen mit der Identifizierung der Gegenstände auf dem Bild: Ist die sitzende Figur eine Frau, ein Engel, ein Mann, ein Genius? Ist das Bauwerk eine Baustelle, ein Pfeiler, ein Turm, ein Haus? Ist die kleine geflügelte Figur ein Putto, ein unschuldig kritzelndes Kind, ein böser Dämon, eine Assistenzfigur, die die höchsten Eingebungen der Melancholie notiert? Ist das Tier, auf dessen Flügel die Aufschrift "Melencolia I" steht, eine Fledermaus, ein Mischwesen aus Fledermaus und Echse oder der Drachen des Saturn? Ist das Zeichen "I" im Schriftzug der Flügel die Zahl "Eins", die Ordnungszahl "Erstens", der Buchstabe "I" in der Bedeutung des Imperativs des lateinischen "ire" (gehen), also: "Melencolia - geh weg!"? Ist der Bogen im Hintergrund ein Regenbogen, Mondbogen, der Saturnring? Ist die meteorartige Himmelserscheinung ein Komet oder Saturn? Welche Lichtquellen herrschen? Ist das Land im Hintergrund teilweise überschwemmt? Ist der Steinblock ein Säulenrest, die missratene Form von einem der Urkörper, die Konstruktion eines unregelmäßigen Polyeders oder die Darstellung der Kristallstruktur?

Das Geheimnis dieses Blattes besteht nicht nur darin, welche Gegenstände im Bild versammelt sind, sondern was es bedeutet, dass es gerade diese sind, welcher Zusammenhang zwischen ihnen besteht, was also ihre Komposition meint. Alle Dinge des Blattes sind, was sie sind, Zirkel, Buch oder Waage, und bedeuten noch etwas anderes, das sich erst durch Entschlüsselung des ikonologischen, philosophischen, religiösen, medizinischen, naturwissenschaftlichen oder zeitgeschichtlichen Hintergrund erschließt. Dennoch ist auf diesem Wege bislang keine schlüssige Interpretation entwickelt worden. Es scheint so, daß die "Melencolia" - und das wäre ihre Modernität - einer prinzipiell unabschließbaren Interpretierbarkeit gehorcht, die weder auf eine mittelalterliche Systematik des mehrfachen Schriftsinns noch auf ein hermeneutisches Programm kalkulierter Sinnverschlüsselung zurückzuführen ist. Vielmehr scheint es so zu sein, daß die feste Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung aufgegeben ist. Damit wird der Betrachter in dem Versuch, ein Sinnganzes zu erfassen, zum Scheitern verurteilt. Schließlich muß man, wie die geflügelte Frau, diesen Prozeß der Sinnproduktion vor dem Blatt unterbrechen: das ist das Moment der Selbstreflexion, die nicht schon auf den neuen Sinn aus ist, sondern fragt, was eigentlich in dieser Kette der Sinnzuweisungen geschah und geschieht. In gewisser Weise wird damit vorgeschlagen, den Stich als "Reflexionsblatt" zu nehmen - in dem philosophischen Sinn, wie er sich in diesem Jahrhundert immer mehr herauskristallisiert: daß in Kunst und Wissenschaft die melancholische Erfahrung und die Problematik des Wissenkönnens miteinander verbunden sind.

Beschreibung

"Ein gefügeltes Weib, das auf einer Stufe an der Mauer sitzt, ganz tief am Boden, ganz schwer, wie jemand, der nicht bald wieder aufzustehen gedenkt. Der Kopf ruht auf dem untergestützten Arm mit der Hand, die zur Faust geschlossen ist. In der anderen Hand hält sie einen Zirkel, aber nur mechanisch: sie macht nichts damit. Die Kugel, die zum Zirkel gehört, rollt am Boden. Das Buch auf dem Schoß bleibt ungeöffnet. Die Haare fallen in wirren Strähnen, trotz dem zierlichen Kränzchen, und düster-starr blicken die Augen aus dem schattendunklen Antlitz. Wohin geht der Blick? Auf den großen Block? Nein, er geht darüber hinweg ins Leere. Nur die Augen wandern, der Kopf folgt nicht der Blickrichtung. Alles scheint Unmut, Dumpfheit, Erstarrung.

Aber ringsherum ist alles lebendig. Ein Chaos von Dingen. Der geomertische Block steht da, groß, fast drohend; unheimlich, weil es aussieht, als ober fallen wolle. Ein halbverhngerter Hund liegt am Boden. Die Kugel. Und daneben eine Menge Werkzeuge: Hobel, Säge, Lineal, Nägel, Zange, ein Schnürtopf zum Farbenanrühren - alles ungenützt, unordentlich zerstreut.

Was soll das heißen? Als Erklärung steht oben, den Flügeln eines fledermausähnlichen Fabeltieres eingeschrieben, das Wort: Melencolia I."

(Heinrich Wölfflin, S. 247 f)

EINZELNE BILDELEMENTE

BLÄTTERKRANZ

BAUWERK UND LEITER

FLEDERMAUS

FLÜGEL

GERÄTE

HUND

LANDSCHAFT

MELENCOLIA

PUTTO

SCHLÜSSEL

UNORDNUNG

ZEIT UND ZAHL

TECHNISCHE UND BILDNERISCHE GESTALTUNG

KOMPOSITION

LICHT

BLICKFÜHRUNG

DIE TECHNIK DES KUPFERSTICHS

INTERPRETATIONEN

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"Dürer löst sich mit seinem Stich von der spätantiken Tradition der Temperamentenbilder, sticht also keinen typus melancholicus, sondern ein singuläres Komplexbild der "Melencolia", worin kein Melancholiker vorkommt, sondern Zeichen, die insgesamt die geistigen, psychischen und praktischen Verfassungen, Fähigkeiten und Gefährdungen der Melancholie zeigen. Andererseits zieht er Momente aus der Ikonographie der Geometria in sein Blatt und verbindet diese mit der Lehre des Gottes Saturn, des Planeten der messenden Künste und der Melancholie. Dadurch gelingt es Dürer, die Verbindung von Melancholie und intellektuellem Können ins Bild zu setzen, doch so, daß die Art dieser Verbindung nicht schon vorab bewertend entschieden, sondern zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht wird."
(zit. aus: H.Böhme, S.30 f)

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"Mit diesem Stich ist eine ikonographisch bisher unbekannte Komplexität der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos und in der Welt eingeschlossen - vielleicht gerade, weil auf diesem Blatt kein Mensch zu sehen ist. Der Bezug auf das im Bild selbst nicht anwesende Subjekt liegt nicht allein darin, daß Melancholie eine Stimmung des Menschen ist; nicht nur darin, daß der Stich insgesamt als "Symbolisches Selbstbildnis" Dürers verstanden werden kann; sondern vor allem darin, daß dieser Stich an einer historischen Schnittstelle die Frage nach den Bedeutungen, die in den Zeichen, den Dingen und im Wissen liegen, an das Selbstverständnis des Subjekts bindet."
(zit. aus: H.Böhme, S.42)

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"Von Dürer stammt der Titel des Blattes. Es trägt die Beschriftung "Melencolia". Von Dürer stammt die Deutung zweier Attribute der sitzenden Frau; er notiert einmal: Schlüssel bedeuten Gewalt, Beutel bedeutet Reichtum. Dürer hat ferner klar ausgesprochen, was er unter Melancholie versteht. Und auch über die Seelenlage Dürers im Entstehungsjahr dieses Stiches wissen wir etwas: Im Mai 1514 war nach schwerer Krankheit seine Mutter gestorben."
(Wilhelm Waetzold in: J.Reisner, S.54)

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"Dürer gebraucht das Wort Melancholie in seinen Schriften zwar nur ein einziges Mal, aber in einem sehr aufschlussreichen Zusammenhang. Er spricht von der Erziehung junger Maler und erwähnt den Fall, daß der Lernende sich überanstrengte, daß er "zu viel sich übte". Dann würde ihm davon die "Melancholie überhandnehmen", und man müßte mit kurzweiligem Saitenspiel versuchen, "das Gemüt zu ergötzen". Das ist gerade, was wir zur Erklärung des Stiches brauchen. Die Verdüsterung eines jungen Künstlers hat Dürer zwar nicht dargestellt, das geistige Bemühen ist ganz universal gefasst, und die nach damaliger Auffassung zentrale Tätigkeit, die mathematische, als Hauptmotiv herausgenommen, kein Zweifel aber, daß die Situation nicht mehr das Tun, sondern eine Hemmung im Tun gibt, d.h. eben jenen Zustand, dem der Melancholiker so leicht ausgesetzt ist, wo das Blut schwarz und schwer geworden ist, d.h. die Melancholie überhandgenommen hat. Der Abend ist besonders gefährlich. Auf diese Stunde deutet die Fledermaus."
(Heinrich Wölfflin in: J.Reisner, S.54)

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"Marsilio Ficino (1433 - 1499) hatte in seinem Werk 'De Vita triplice! (1494) Saturn als den Bringer der schöpferischen Melancholie bezeichnet. Plato war ein 'Saturnkind'. Pontormo fand für weine eigene neue 'Freiheit' wichtige Anregungen bei Dürer. Dürers 'Melencolia' ist, nach den Untersuchungen Panofsky - Saxly die Darstellung einer 'Komplexion', welche dem Einfluss des Saturns untersteht. Um diese Zeit wird der Saturn - wie bei Aristoteles - wieder ein Symbol der Genialität, allerdings auch der Verdüsterung, des Verbrechens, des Wahnsinns. Ficino definiert den saturnischen Typ in folgender Weise: < Selten gewöhnliche Charaktere und Schicksale, sondern Menschen, die von den anderen verschieden sind, göttliche oder tierische, glückselige oder vom tiefsten Elend niedergebeugte > und er empfand sich selbst als einen Charakter diser Art, weil er wusste, dass in seinem Horoskop der Saturn seinen Szendenten Wassermann beeinflusste. Einem Freund schrieb Ficino einmal: < Ich weiß in diesen Zeiten sozusagen gar nicht, was ich will, vielleicht auch will ich gar nicht, was ich weiß, und will, was ich nicht weiß. > Dabei klagte er über seinen lästigen Saturn. Ein psychologischer Grundzug des genialischen, melancholischen, subjektiven, bizarren, 'manieristischen Menschen' vom Typus Pontormos wird hier in der mustergültigen Form eines paradoxalen, literarisch-manieristischen Concetto geschildert."
(Gustav René Hocke, S.20)

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"Die leidenschaftliche Geawalt seiner (Michelangelos) Kraft, die terribilità, die kompromisslose Individualität, auch im Umgang mit den Päpsten, fesselt ebenso wie seine Neigung zu titanischer Vereinsamung und saturnischer Melancholie. < Einmal auf dem rechten, dann auf dem linken Bein stehend >, schreibt er, ähnlich wie Marsilio Ficino in einem Selbstbekenntnis, < schwanke ich; suche ich mein Heil, hin- und hergerissen zwischen Laster und Tugend, quält mich mein unruhiges Herz >"
Gustav René Hocke, S.58)

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Michelangelo in einem seiner letzten Gedichte: "Ausgeleiert bin ich, zerrissen, zerbrochen durch all die Müh', und tot sind all die Wirtshäuser, wo ich einst aß. Meine Freude ist die Melancholie, meine Ruhe die Qualen. Als Narrenfigur wär' ich gut, mit dieser Hütte hier, mitten unter prächtigen Palästen. Die Liebesflamme ist erloschen, die Seele ist kahl. (...) Die Liebe, die Musen, die blühenden Grotten, alles ist in Unrat erstickt. Was hilft's, soviel Puppen gemacht zu haben, wenn man so endet wie der, welcher den Ozean überqueren wollte und im Sumpf absackt! Die wohlgelobte Kunst, von der ich soviel wußte, brachte mich hierher. Arm, alt und untertan. Ich löse mich auf, wenn ich nicht bald sterbe!"
(in: Gustav René Hocke, S.59)

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Im "Prinzip Hoffnung" setzt sich Ernst Bloch mit dem Staunen auseinander, das sowohl in Angst- wie in Glücksgestalt auftritt: "Die Hölle ist kraft der Aufklärung verschwunden, doch das Korrelatsproblem des ganz und gar durchdringenden, des metaphysischen Grauens ist geblieben. Sein Aufenthalt ist allemal das Jetzt, ein blutiger Spalt im Dunkel des Jetzt und des in ihm Befindlichen. Dass ein solch unmittelbares Grauen existiert, daß es von anderer Art ist als die entsetzliche Realangst vor wirklich Gewordenem, steht außer Zweifel. Sein Element ist der unerträgliche Augenblick, ein oft, doch nicht immer pathologisches Gebilde, ein fast fällendes Entsetzen an sich selbst." Bloch geht in der Folge unter anderem auf Büchners "Woyzeck" ein und fährt schließlich fort: "Angst erscheint in diesen sämtlichen, untereinander noch so weit abstehenden Zeugnissen als eine Erwartung nach der unbestimmt-finsteren Seite, nach Seite des würgenden, starrenden Nichts im Real-Möglichen. Bildhaft ist dies Unbildbare gleichfalls notiert, in Dürers "Melencolia", und zwar diesseits wie jenseits der darin enthaltenen astrologischen Beziehungen. Auch jenseits des Saturn, der der Frauengestalt aus den Augen herausscheint, dessen Embleme das Blatt füllen, nur unterbrochen durch das freundlichere Quadrat des Jupiter, an der Wand hinter der Figur. Aber Saturn, der Stern der Grübelei und doch auch der Sammlung, erklärt, obwohl er ebenso der Stern des Unglücks ist, nicht den Grund, in den Melancholia blickt. Sammlung ist nur im Auge der Figur, vielleicht in der Kugel des Vordergrunds, vielleicht sogar im schlafend gekrümmten Hund, doch nicht im Ensemble der Gegenstände, noch im Objekt, worauf die Figur blickt. Dieses Objekt selber ist nicht auf dem Bild, doch gerade seine völlig ungesammelte Beschaffenheit ist vom Ensemble angedeutet. Treffend wurde von Dehio aufs Dissolate dieses Interieurs hingewiesen: der Zirkel ruht müßig in der Hand, zerstreutes, gramseliges Licht liegt auf zerstreuten Gegenständen, die Ordnung, welche sonst Gelehrtenstuben des sechzehnten Jahrhunderts auszeichnet, ist völlig fern, kein größerer Gegensatz als zwischen diesem Ensemble und dem aufgeräumten des Blatts "Hieronymus im Gehäuse". Das eben macht: Dürers Blatt "Melencolia" zeichnet, mit astrologischen Hilfsmitteln, die Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. Das Blatt zeichnet Stupor, worin eine in dauerndem Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt; Dürers "Melencolia" ist so das unschätzbare Dokument negativen Staunens, gerade ohne Spuk und Hölle, selbst ohne die Bestimmtheit Saturn."
(Ernst Bloch, S.350 f)

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Siegmar Holsten versteht die Isolation vieler Künstler als die Folge eines Konflikts zwischen "Autonomiestreben und ökonomischer Abhängigkeit, kreativer Erfindung und verständnislosem Publikum. Den Versuch, eigenständig zu schaffen, bezahlt der materiell nicht gesicherte Künstler meist mit Niedergeschlagenheit, Melancholie und Verzweiflung - ein Preis, der bis zu Alptraum, Wahnsinn und Selbstmord steigen kann. Seit Plato zog man aus dieser Beobachtung häufig den Schluss, melancholische Empfindsamkeit sei geradezu Bedingung und Merkmal künstlerischer Kreativität. Mit dieser These ließ sich nach 1500 und mehr noch im Geniekult des 18.Jahrhunderts exzentrisches Verhalten von Künstlern legitimieren. Ein kritischer Vergleich von Biographie und Werk lehrt indes, daß in der Regel Depression erst die Folge eines unbewältigten Konfliktes mit der Gesellschaft ist. Melancholische Selbstanalyse ist nicht Kennzeichen des Künstlers schlechthin, sondern Symptom seiner Entfremdung. Das gilt exemplarisch - vor der Emanzipation der bildenden Künstler - für einen mittelalterlichen Dichter wie Walther von der Vogelweide, der seine Niedergeschlagenheit als Folge des Mißlingens beschreibt, Ehre, Besitz und Gottes Gnade in Einklang zu bringen. Hieraus wurde später der Konflikt von Geltungsdrang, materieller Abhängigkeit und Wahrhaftigkeit vor sich selbst. So im frühen 16.Jahrhundert bei Benvenuto Cellini, der daraus als einer der ersten Künstler die Konsequenz zog, sich in seine Dachkammer zurückzuziehen und seinen Lebenslauf mit allen Schwankungen des Gemüts zu protokollieren. Die Haltung des in die Hand gestützten Kopfes, die Walther in diesem Zusammenhang beschreibt, wurde zu einem Leitmotiv für die subjektiven Äußerungen künstlerischer Isolation. Sie kann alle Schattierungen zwischen Wahnsinn, Depression, Traum und sinnender Versunkenheit ausdrücken. Programmatisch verwendet sie Dürer in seinem berühmten Kupferstich "Melancholia". Der Gestus, hier noch allegorisch auf die Bestimmung der Kunst schlechthin bezogen, wird später zum Kennzeichen zahlreicher Selbstporträts.
(Siegmar Holsten, S.74)

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"In einer seiner Schriften warnt Dürer davor, Maler-Lehrlinge zu viel üben zu lassen, weil sonst "die melecoley überhand mocht nehmen". Als Medizin gegen Melancholie dieser Art empfiehlt er "kurzweilig Saitenspiel" zur "Ergetzlichkeit seines Geblüts". Dürer meint wohl hier eine vorübergehende Stimmung. Wer heute herausfinden will, was man sich damals alles unter Melancholie vorstellte, kann sich nicht allein auf Geschriebenes verlassen. Die Mehrzahl der Menschen las nicht, darum war die Sprache der Bilder so wichtig. Das Bild-Motiv des in die Hand gestützten Kopfes kam häufig vor. Aus Inschriften geht hervor, daß es nicht nur mit "Melancholie", sondern auch mit "acedia" verbunden wurde. Acedia ist ein Begriff aus dem Mönchsleben des Mittelalters und meint eine geistige Dumpfheit, eine Unfähigkeit, seine "Seele zu Gott zu erheben". Sie galt als Versuchung und lange Zeit auch als eine der Todsünden. Acedia charakterisiert die schwerste Form der Melancholie: nicht nur getrübte Stimmung, sondern eine viel tiefer reichende Hemmung etwas zu wollen oder zu tun. Wir würden heute von einer schweren Depression sprechen.
Das Wort "Melancholie" und das Bildmotiv "in die Hand gestützter Kopf" wurden noch in einem anderen Zusammenhang benutzt, nämlich als Bezeichnung für eines der vier Temperamente. Die Temperamente-Lehre stammt aus der Antike und wurde gerade von den Humanisten wieder ins Gespräch gebracht. Sie besagt, daß Körper und Charakter (Temperament) bestimmt werden von vier verschiedenen Flüssigkeiten. Im Ideal-Menschen sind sie ausgewogen, im natürlichen Menschen unausgewogen. Wer zu viel rotes Blut, sanguis, in sich hat, ist ein Sanguiniker. Wer zu viel Schleim, phlegma, besitzt, ist ein Phlegmatiker. Zu viel gelbe Galle, cholé, macht Menschen zu Cholerikern, und zu viel schwarze Galle, melaina cholé, zu Melancholikern.
Die Lehre von den vier Flüssigkeiten konnte naturwissenschaftlichen Nachforschungen nicht standhalten, aber die Aufteilung aller Menschen in vier Temperamente ist nach wie vor populär. Nach den alten Beschreibungen galt das sanguinische Temperament als das glücklichste, das melancholische als das schlimmste: ungesellig, trübsinnig, geizig, tatenlos, also faul. Zu den körperlichen Merkmalen des Melancholikers gehörte eine dunkle Gesichtsfärbung, Dürer hat sie durch den Kontrast mit dem Weiß der Augen deutlich gemacht. Nicht nur Körpersäfte und Temperament wurden miteinander in Beziehung gebracht, sondern auch noch die vier Tageszeiten, Jahreszeiten, Lebensalter, Elemente. Zumindest zwei dieser Vierer-Koppelungen hat Dürer in seinen Stichen aufgenommen. Als Element wurde der Melancholie die Erde, die Trockenheit zugeordnet - um krankhafte Auswirkungen zu bekämpfen, sollten Pflanzen aus Feuchtgebieten aufgelegt werden, etwa Wasserkresse und Hahnenfuß wie die Melancholie sie hier auf dem Kopf trägt. Als Tageszeit war der Melancholie der Abend zugedacht - auf Dürers Stich setzt gerade die Dämmerung ein, deutlich gemacht an dem Kometen und an dem fledermausähnlichen Tier, das die Inschrift trägt."
(Rose-Marie und Rainer Hagen, S.80 ff)

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"Unter seinen vielen Aquarellen befindet sich eines, auf dem dunkle Wassermassen vom Himmel stürzen. Dürer schrieb dazu, er hätte von einem sintflutartigen Regen geträumt. Solche Alpträume, in denen der Mensch sich in hoffnungsloser, auswegloser Lage erlebt, gehören mit zu den Merkmalen der Melancholie. Anlässe für derlei Phasen gab es in Dürers Leben genug. Einige Forscher sehen seinen Stich in Zusammenhang mit dem Tod seiner Mutter, die in seinem Hause lebte und im Mai 1514 starb. Aber niemand weiß, ob der Verlust der Mutter ihn wirklich tief getroffen hat. Unbestritten dagegen ist, daß er in einer freud- und kinderlosen Ehe lebte. 1514 war er 43 Jahre alt - vielleicht hat er etwas von dem gespürt, was wir heute mit 'Midlife-Crisis' umschreiben. In seiner Heimatstadt Nürnberg wurde er zwar durchaus geehrt, mit der Berufung in den Großen Rat hatte er 1509 schon die höchste Auszeichnung erhalten, die für Nicht-Patrizier vorgesehen war. Aber er wußte, wieviel höher Künstler in Italien geschätzt wurden, eine wieviel einflußreichere Rolle Kunst und Künstler südlich der Alpen spielten. Aus Venedig hatte er einige Jahre zuvor geschrieben: "Hy pin ich ein her, doheim ein schmarotzer."
Aus Italien mitgebracht hatte Dürer das Interesse für Theorie. Drei Bücher veröffentlichte er und vertrat immer wieder die damals in Deutschland neue These, daß der Künstler sich nicht auf seine Hand allein verlassen dürfe, dass er vielmehr wissen müsse, wolle er etwas wirklich Gutes vollbringen. Hauptsächlich hat er sich mit den Proportionen des Menschen beschäftigt. Er wollte einen Ideal-Menschen errechnen, hat es aber wieder aufgegeben angesichts der Vielfalt schöner Körper. Vielleicht - hier läßt sich nur spekulieren - wollte er seine Theorie-Schwierigkeiten auf diesem Blatt mit darstellen: der vor sich hinzeichnende Putto als der naive, 'ungebildete' Maler, die erwachsene Figur mit dem Zirkel in der Hand als der um Wissen bemühte Künstler, der nicht weiter weiß.
Die Kinder-Gestalt läßt sich auch noch ganz anders deuten, nämlich als die positive Seite der Melancholie. Aristoteles hat sie zuerst beschrieben: "Alle wahrhaft herausragenden Menschen, seien sie nun ausgezeichnet in der Staatskunst, in der Dichtung oder in den bildenden Künsten, sind Melancholiker." Dieser positive Aspekt der Melancholie wurde im 16.Jahrhundert gleichfalls wiederentdeckt, aus einem Temperament mit lauter negativen Ei¬genschaften leuchtete plötzlich das Genie hervor. Natürlich wurde auch Dürer in diesem Sinne als Melancholiker eingestuft. Philip Melanchthon, Humanist und Mitarbeiter Luthers, schrieb von einer "hochedlen", von einer "generissima melancolia Dureri"."
(Rose-Marie und Rainer Hagen, S.82 ff)

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"Als Kunststadt konnte Nürnberg nicht mit Venedig oder Florenz konkurrieren, aber als Zentrum technischen Verstandes und handwerklicher Präzision war es weit über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt. Werkzeuge und Geräte aus Nürnberg besaßen einen außerordentlichen Ruf, und zu Dürers Zeit kamen gleich zwei bahnbrechende Neuerungen aus seiner Stadt: Martin Behaim konstruierte 1492 den ersten Globus, Peter Henlein baute 1510 die erste Taschenuhr mit Federwerk in eirunder Form, das sogenannte "Nürnberger Ei".
Uhr und Globus - beide Geräte dienen dazu, durch Zählen, Messen und Einteilen die Umwelt genauer zu erfassen und darzustellen, sie kennzeichnen die naturwissenschaftliche Sicht, die sich zu Beginn der Neuzeit durchsetzt. Die Welt wird nicht mehr nur als Gottes Garten oder als menschliches Jammertal gesehen, sondern als etwas, was der Mensch berechnen kann. Dürers Studien über die Proportionen des Menschen erklären sich mit aus diesem neuen Interesse, und man weiß, daß er wegen dieser Berechnung des Menschen angegriffen wurde, vermutlich von Christen, die meinten, man dürfe an Gottes Kinder nicht das "Zentimetermaß" anlegen. Auch das Melencolia-Blatt spiegelt dieses Interesse, Dürer hat eine ganze Reihe von Meßinstrumenten festgehalten: Sanduhr, Sonnenuhr, Stunden-Glocke, dann Waage und Richtscheit.
Das Zahlenviereck jedoch gehört noch ganz in die alte Welt, ins Mittelalter. Die Ziffern dienen hier nicht dem Erfassen der Realität, sondern dem geistvollen Spiel, der symbolischen Darstellung, der Magie. Solche Anordnungen hießen "Magisches Quadrat" oder "tabula iovis", Jupiter-Tafel. Ihre Besonderheit besteht darin, daß alle Senkrechten und alle Waagerechten sowie die beiden Diagonalen jeweils dieselbe Summe ergeben, in diesem Fall: 34. Dürer hat aber noch Anspielungen eingebaut. Die Zahl 34 ergibt versetzt 43 - sein Alter im Jahre 1514. Die Jahreszahl selber erscheint in der untersten Zeile. Es ist auch das Jahr, in dem seine Mutter starb, und zwar im Mai, im fünften Monat. Darauf verweist die auf dem Kopf stehende 5 in der zweiten Zeile links: In der Symbol-Sprache galten die nach unten gehaltene Fackel oder der mit den Wurzeln nach oben abgebildete Lebensbaum als Zeichen des Todes.
Das Quadrat hat aber noch eine ganz andere Beziehung zum Thema des Stichs. Jedem der vier Temperamente war ein Gestirn und damit auch ein Gott zugeordnet, die Melancholie stand unter dem unheilvollen Einfluß des Saturn. Nach den griechisch-römischen Sagen wurde der Gott Saturn überwältigt von dem Gott Jupiter, mit dem der nach ihm benannten Tafel ist also Jupiter schützend zugegen."
(Rose-Marie und Rainer Hagen, S.84 ff)

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"Warum Dürer hinter das lateinische Wort für Melancholie "I" gesetzt hat, ist nicht eindeutig geklärt. Vielleicht wollte er noch die anderen drei Temperamente darstellen, vielleicht wollte er darauf hinweisen, dass es mehrere Formen oder Auswirkungen von Melancholie gibt, möglicherweise meinte er auch keine Zahl, sondern den Buchstaben "i". Dann hieße der Bildtitel übersetzt: "Melancholie, geh fort!"
(Rose-Marie und Rainer Hagen, S.86)

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"Melancholie tritt in bestimmten Epochen besonders häufig auf, wenn auch nicht immer unter ihrem eigenen Namen: Die Deutschen sprachen im 18.Jahrhundert von der "Werther-Krankheit", die Franzosen im 19.Jahrhundert vom "mal du siècle", der "Krankheit des Jahrhunderts". Gemeinsam haben die meisten 'melancholischen Epochen' eine unübersichtliche gesellschaftliche Situation. Es fällt schwer, sich zurechtzufinden und sinnvoll zu handeln. Ein Gefühl von Überdruss und Langeweile kann hinzukommen ebenso wie das der Bedrohung. Musterbeispiel eines Melancholikers ist Hamlet, der an den verrotteten dänischen Hof zurückkehrt, der grübelt und zaudert, der erschrickt vor der Wahrheit der 'gesellschaftlichen Situation', der sich zurückzieht in einen gespielten Wahnsinn, bevor er durch die Umstände endlich zum Handeln gezwungen wird. Shakespeare schrieb sein Hamlet-Drama 1601, am Ende einer Epoche, an deren Beginn Dürer seine Melencolia entwarf. Es war eine Epoche des Umbruchs. Neben dem christlichen entwickelte sich ein naturwissenschaftliches Weltbild; die Institution, die während des Mittelalters den geistig-geistlichen Überbau repräsentierte, die katholische Kirche, verlor ihre Allmacht. Die Folgen dieser Änderungen reichten bis ins tägliche Leben. Jahrhundertelang hatte beispielsweise die katholische Kirche gelehrt, der Christ könne sich durch gute Taten ein Anrecht auf das Himmelreich erwerben. Luther jedoch lehnte diese These ab. Wenn nun aber einer keine Belohnung im Jenseits erwarten durfte für das Brot, das er täglich den Armen gab, warum sollte er dann weiter so freigiebig helfen?
Ein anderes Beispiel: Zwei herausragende Gruppen der Bevölkerung verschwanden, die Mönche und die Ritter. Die Klöster wurden in den reformierten Gebieten aufgehoben, die Ritter hatten schon vorher durch die wachsende Macht der Städte und der Fürsten ihre materielle Grundlage verloren. Es verschwanden zwei Gruppen, die durch ihre Existenz wie durch ihre Ideale die Gesellschaft entscheidend mitgeprägt hatten - wenn nun mönchische und ritterliche Lebensweise nichts mehr galten, woran sollte man sich dann orientieren?
Wir sind gewohnt, den Beginn der Neuzeit immer nur als kraftvollen Aufbruch zu sehen, er war aber wohl begleitet von einer starken melancholischen Grundströmung. Gerade unter den sensibleren Geistern der Epoche gab es viele, die geplagt waren von dunklen Visionen, quälenden Gesichten. Nicht ausgeschlossen, daß wir uns auch heute wieder in einer melancholischen Phase befinden. Vieles deutet darauf hin, auch wenn das Wort nicht in Mode ist. Dafür wird um so mehr gesprochen von Angst und Depression. Die Kinos sind voll von Untergangs-Filmen, und unsere Schriftsteller berichten Jahr für Jahr vom Rückzug auf sich selbst, von ihrer 'Innerlichkeit', weil sich in der Außenwelt so schwer sinnvoll handeln läßt angesichts der eingebildeten oder real drohenden Katastrophen. So gesehen bleibt Dürers Stich höchst aktuell, trotz all der zeitbezogenen Anspielungen und Details."
(Rose-Marie und Rainer Hagen, S.86 ff)

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"Melancholie hat einen doppelten Sinn. Wir kennen nur noch den einen, dass es eine Gemütserkrankung ist, die den Menschen lähmt und von allen Seiten mit Hindernissen umstellt, daneben aber bezeichnet Melancholie eines der vier Temperamente, und der Melancholiker in diesem Sinne braucht kein Kranker zu sein: es sind nach Aristoteles die ernsten, zum geistigen Schaffen veranlagten Naturen.
Als eine Darstellung des spekulativen Denkens ist Dürers Stich denn auch oft verstanden worden. Dass er nichts anderes zu geben beabsichtigte als den forschenden Geist, der vom Experiment zur Synthese übergegangen ist und in intensivster Anspannung des Gedankens die Ahnungen der inneren Anschauungen sich zur Deutlichkeit zu bringen versucht. Selbstvergessen, unberührt vom Gegenwärtigen säße die Frau da, nur ihrer Vision nachdrängend, ein Urbild wissenschaftlich-schöpferischer Arbeit.
Aber wie? Ist diese Lähmung aber wirklich nur die Maske der höchsten Produktivität? Dass etwas lebendig ist in dieser unbeweglichen Gestalt, sieht man wohl, der gespannte Blick, die festgeschlossene Faust sprechen von einem Wollen; aber hat man den Eindruck, dass diese Frau in einer Tätigkeit sich befindet, die ihr angemessen ist? Handelt es sich nicht vielmehr um einen Zustand von durchdringendem Unbehagen? Und das tiefbeschattete Gesicht, die wirren Haare - sie bedeuten doch etwas? Und wenn auch vielleicht ein Moderner findet, der Forscher müsse unwirsch sein in der Frisur und das Ungeordnete im Raum habe etwas Prickelnd-Anregendes, so ist das eben modern empfunden. Die Studierstube des 16.Jahrhunderts ist von peinlicher Ordnung und Stille, und es ist kaum anders denkbar, als daß die Zeitgenossen von Dürers Melancholie zunächst aufs heftigste durch das Ungleichgewichtige im Bild betroffen worden seien.
Eine weitere Überlegung bestätigt, dass wir mit dieser Deutung auf dem richtigen Wege sind. Auch die "Melancholie" hat ihre Vorgänger. Populär wie die Lehre von den Temperamenten war, wird sie in den Kalendern traktiert mit Vers und Bild. Da ist dann der Melancholiker der Mann, der die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme gelegt hat, und seine Frau ist am Spinnrocken eingeschlafen. Die Unlust zu jeder Tätigkeit galt als der entscheidende Zug im Wesen des Melancholikers. Melancholie überhaupt aber war der "unedelste Komplex". So lautete das volkstümliche Urteil, ganz im Gegensatz zu der Lehre des Aristoteles.
Durch Giehlow wissen wir nun, dass seit kurzem die antike Meinung wieder zu Ehren gebracht worden war. Marsilius Ficinus vertrat sie in seiner Schrift vom dreifachen Leben, die auch ins Deutsche übersetzt war: "Alle Männer, so einer großen Kunst vortrefflich sind gewesen, die sind alle melancholici gewesen". (Nach Cicero, Tuscul. I., 33: omnes ingeniosos melancholicos esse). Dürer hat diese Schrift gekannt und mit seinem Stich im einzelnen und ganzen sich zu ihr bekannt. Er gibt nicht die beliebige tatenlose Schwerblütigkeit: um seine edlere Melancholie sind allerlei Zeichen der messenden Wissenschaft und der Technik gehäuft. Aber immerhin - nicht die Beschäftigung mit diesen Dingen ist dargestellt, sondern die völlige Apathie, und somit schließt sich Dürer doch wieder an die älteren Darstellungen an.
Unsere Interpretation setzt nun aber voraus, dass der Begriff Melancholie von Dürer bereits in der modernen Doppelbedeutung unterschieden worden sei: als normale Temperamentsbestimmung, wo die schwarze Galle sich verdrängt mit den anderen Säften, und als jener Zustand des Ungleichgewichts, wo die Seele unlustig wird zu jeder Tätigkeit. Haben wir das Recht, diese Voraussetzung zu machen? Gewiss. Dürer gebraucht das Wort Melancholie in seinen Schriften zwar nur ein einziges Mal, aber in einem sehr aufschlussreichen Zusammenhang. Er spricht von der Erziehung junger Maler und erwähnt den Fall, dass der Lernende sich überanstrengte, dass er "zu viel sich übte". Dann würde ihm davon die "Melancholie überhandnehmen" und man müsste mit kurzweiligem Saitenspiel versuchen, das "Geblüt zu ergötzen". Das ist gerade, was wir zur Erklärung des Stiches brauchen. Die Verdüsterung eines jungen Künstlers hat Dürer zwar nicht dargestellt, das geistige Bemühen ist ganz universal gefasst, und die nach damaliger Anschauung zentrale Tätigkeit, die mathematische, als Hauptmotiv herausgenommen, kein Zweifel aber, dass die Situation nicht mehr das Tun, sondern eine Hemmung im Tun gibt, d.h. eben jenen Zustand, dem der Melancholiker so leicht ausgesetzt ist, wo das Blut schwarz und schwer geworden ist, d.h. die Melancholie "überhandgenommen" hat. Der Abend ist besonders gefährlich. Auf diese Stunde deutet die Fledermaus.
Die melancholische Depression ist bei Marsilius Ficinus eingehend beschrieben. In der überlangen Beschäftigung mit geistigen Dingen (bei der "steten Lehr") hat sich das leichte Blut verzehrt, das Gehirn ist kalt und trocken geworden, die Vernunft ist verstopft. "Die Vernunft ist verstopft": es lässt sich nicht treffender der Zustand der Frau auf Dürers Stich kennzeichnen. Der Blick geht ins Leere. Die Kugel ist dem Schoß entrollt, der Zirkel hat nichts mehr zu tun. Man spricht wohl auch von einem grüblerischen Vor-sich-hin-Brüten. Das ist dann aber nicht als die Ursache, sondern als die Folge des melancholischen Anfalls zu verstehen.
Man tut sicher unrecht, aus Dürers Melancholie ein faustisches Geständnis herauslesen zu wollen: - und sehe, dass wir nichts wissen können". Zwar meint man immer wieder, es müsse in dem großen Block eine quälende unlösbare Frage stecken. Er steht so auffällig im Bilde, dass man ihm gar nicht ausweichen kann. Wenn er nur wirklich irgendein mathematisches Problem enthielte, etwas wie die Quadratur des Kreises - allein die Fachleute leugnen, daß der Körper irgendein besonderes geometrisches Interesse biete oder geboten habe könne. Die bloße Unregelmäßigkeit tut es nicht, dass es etwa ein Kristall sein sollte, der ja wohl als ein mächtiges Geheimnis der Natur erscheinen konnte, das anzunehmen verbiete die Größe und die unkristallinische Oberflächenzeichnung. Der Block liegt aber überhaupt nicht in der Blickrichtung der Frau. Man denke nur, wie hoch der Augenpunkt im Bild genommen ist, und dass der Block auf derselben Stufe steht, auf der sie sitzt, nicht höher.
Kurzum, ich kann nicht sehn, dass irgendwo auf besonders schwierige Aufgaben hingewiesen wäre. Noch weniger möchte der Sinn des Blattes getroffen sein mit dem Satze, dass das Forschen und Grübeln überhaupt niemanden glücklich mache, weil es zu keinem Ende führe. Das Preisgeben der weltlichen Forschung widerspräche der ganzen geistigen Tendenz Dürers, der eine Wissensfreudigkeit besaß wie Lionardo und der im unablässigen Suchen und Beobachten gerade das verehrte, was uns Gott näherbringe. Freilich war er sich auch der Schranken der menschlichen Natur bewußt, und daß uns ein abschließend-klares Erkennen möglich sei, aber sollten wir deswegen überhaupt das Forschen aufgeben? "Den viehischen Gedanken nehm wir nit an", antwortet Dürer auf einen solchen Einwurf.
(Heinrich Wölfflin, S. 247 ff)

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"Es ist das Verdienst Warburgs, die astrologische Seite des Problems aufgenommen und die Beziehung des Melancholikers zum Planetengott Saturn, dem er unterstellt ist, ins Licht gerückt zu haben. Auf derselben Fährte sind dann Panofsky und Saxl weitergegangen. Es ist nicht unwichtig zu erfahren, dass die Tätigkeit des Messens schon im spätern Mittelalter mit dem Bild des Saturn sich verbindet, und an einer Stelle hat Dürer sicher astrologische Weisheit vorgetragen: in dem Zahlenquadrat in der Mauer, einer Zahlenzusammenstellung, wo je vier Felder immer diesselbe Summe ergeben, ob man sie horizontal, vertikal oder diagonal abliest. Man schrieb solchen "magischen Quadraten" geheimnisvolle Kraft zu. Hier ist es das Jupiterquadrat, das entsprechend der heiteren Natur des Gottes schützend gegen die verdüsternde Macht des Saturn wirkt. Die Erklärung im Sinne astrologischer Heilkunde wird sichergestellt durch die Tatsache, dass das Quadrat als Metallscheibe gegeben ist, so wie es Agrippa von Nettesheim fordert."
(Heinrich Wölfflin, S. 251)

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"Im Gegensatz zu den Figuren des Kalenderbildes ist Dürers Melancholie geflügelt. Das will sagen, dass er nicht einen einzelnen melancholischen Menschen, sondern den Begriff der Melancholie darstellen wollte. Mit denselben Mitteln ist z.B. die Frau des Großen Glücks als allegorische Figur gekennzeichnet.
Was Zirkel und Kugel sagen wollten, verstand man ohne weiteres. Die Mathematik ist die Grundlage aller Wissenschaft. Eben darum muß sie hier im Zentrum stehen. Der große Block, wenn er auch ein besonderes geometrisches Problem nicht einschließt, liegt offenbar im selben Interessenkreis. Schon Sandrart rühmte ihn als perspektivische Konstruktion. Die Vorzeichnung findet man im Dresdner Skizzenbuch. Verständlich ist auch die Waage und die Sanduhr als Zeitmesser (- wenn die Nähe des Glöckleins nicht eher auf den Sinn deutet, daß die Zeit dem Ende entgegen rinnt?), aber auch der Alchemistentiegel gehört zum legitimen Hausrat, aber damit ist das Inventar ja noch lange nicht erschöpft. Man hat den Versuch gemacht, in den Gegenständen die Gesamtheit der mittelalterlichen artes liberales und artes mechanicae nachzuweisen: eine wohl begreifliche Bemühung, die aber zu keinem Resultat geführt hat. Es sind allerlei Werkzeuge der Kultur dargestellt, indessen, wie es scheint, ohne eine systematische Illustrierung alter Kategorien anzustreben. Das Wesentliche ist, daß alles zerstreut am Boden liegt: nicht zerbrochen (wie die irdischen Musikinstrumente zu Füßen von Raffaels Cäcilia, der sich die himmlischen Harmonien öffnen), aber ungenützt. Die Zange ist halbverdeckt vom Rock der Frau, und auf die Säge setzt sie den Fuß.
Für zwei alltägliche Dinge gibt Dürer selbst eine Erklärung: für den Beutel und die Schlüssel am Gürtel der Frau. Sie bedeuten Reichtum und Gewalt. Diese Güter sollen auch dem Saturniker zugänglich sein. Wie kann man aber glauben, daß irgend jemand den Gegenständen, die zu den Attributen der Hausfrau gehörten, hier plötzlich einen anderen Sinn untergelegt hätte!"

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Quellen

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