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Georges Braque - Violine und Krug (1910)

Der analytische Kubismus

Die Phase des analytischen Kubismus war gekennzeichnet von einer intensiven Analyse des Gegenstandes. Nach dem Verzicht auf einen festen Betrachterstandpunkt bestand die Möglichkeit, zwei oder mehrere wesentliche oder charakteristische Ansichten eines Gegenstandes in einem neuartigen Gebilde, einer Neukonstruktion zu zeigen (z. B. die Rundheit eines Weinglases von oben gesehen, seine bauchige Schalenform und den Fuß in Seitenansicht, unter Umständen auch seine Materialqualität „Glas“ und seine Zerbrechlichkeit als splitteriges Gebilde). Bei dieser Vorgehensweise ging zwar die einheitliche geschlossene Form verloren, es entstand aber etwas Neues: die Simultaneität, die gleichzeitige Darstellung mehrerer Aspekte eines Gegenstands. Weiter betonten Braque und Picasso die Beziehungen der Dinge untereinander und die Relationen zu ihrem Umraum. Dadurch, dass die Dingkomplexe nun aus mehreren Einzelformen in mehr oder weniger gelockerter Anordnung bestanden, ergab sich die Möglichkeit, sie in Beziehung zu setzen zu benachbarten Dingen mit ähnlichen Formteilen oder zu ihrer Umgebung. Für die Bildkomposition ergaben sich daraus neue Möglichkeiten der Rhythmisierung dieser Einzelkomplexe. Die Konzentration auf die Zerlegung und Neukonstruktion der zentralen Gegenstände hatte weitreichende Folgen für die Bildgestaltung. Sie führte zur Reduktion der Farbskala auf wenige Grau-, Blau- und Ockertöne, zur Beschränkung in der Motivwahl auf einige bekannte und leicht verfügbare Dinge, wie Gläser, Krüge, Pfeifen und Musikinstrumente, auch zur Verwendung von ovalen und runden Bildformaten, um die Fläche des eher unbedeutenden Umraums (in den Bildecken bei rechteckigen Formaten) zu reduzieren.

Für den Betrachter ergaben sich überraschend neue, ungewohnte Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden und interpretierend Figur-Grund-Zuordnungen zu erproben, sich dabei bewusst zu werden über Sehgewohnheiten, über die Vorgänge bei der Begriffsbildung und über deren Infragestellung im kubistischen Bild.

Im Stilleben „Krug und Violine" von Georges Braque lässt sich die Intensivierung der Gegenstandsanalyse erkennen.

Weitere Schritte zur Vereinheitlichung der Bildstruktur waren die Reduktion der Farbigkeit auf Ockertöne und Grautöne mit schwarzen und weißen Linien, das Vermeiden geschlossener Konturen und die Verwendung grob pointillistischer Pinselspuren. In der Auflösung der Objekte gingen Picasso und vor allem Braque bis in die Nähe der Gegenstandslosigkeit. Im Frühjahr 1911 hatte Braque damit begonnen, Buchstaben, Worte und Zahlen in seine Kompositionen einzufügen. Das Vorhandensein der - naturgemäß zweidimensionalen - typographischen Zeichen sollte den Betrachter auf die Räumlichkeit des damit in Kontrast stehenden restlichen Bildbestandes hinweisen.

Georges Braque - Violine und Krug (1910)

Öl a. Lw., 117 x 73,5 cm

Die kubistische Bildgestaltung

Auflösung:
Die ganze Fläche des Bildes ist in eine Reihe kleiner, einander durchdringender Flächen zerlegt, von denen jede sowohl hinter wie vor anderen angrenzenden Flächen gedacht werden kann. Die Konturen der Formen werden im Interesse der gesamten Bildstruktur aufgelöst. Aber innerhalb dieser dichten und doch flächigen Struktur gibt es Hinweiszeichen, die dem Beschauer die Möglichkeit geben, den Gegenstand zu erkennen. 
Offene Form:
Die Öffnung der geschlossenen Form zeigt sich besonders klar in der Linienzeichnung. Der Gegenstand wird in Fragmente zerlegt, die mit der Umgebung verzahnt werden. Die Bevorzugung kristalliner Formen steht hier im Kontrast zu den zum Teil geschwungenen Linien der Objekte. 
Licht:
Die zersplitterte Form erhält kein einheitliches Licht mehr. Die Modellierung einzelner Teilformen lässt sie vor und zurück klappen. Die Bildfläche erscheint wie ein flaches Relief mit Vor- und Zurücktreppungen. Eine einheitliche Ausleuchtung ist nicht mehr vorhanden. 
Gegenständlichkeit:
Die nur noch sehr vage angedeuteten Gegenstände verbindet kein einheitlicher Raum mehr. Sie selbst zeigen eine Verkettung simultaner Betrachtungsweisen, die uns die Objekte aus ganz unterschiedlichem Blickwinkel zeigen, und die so nicht im Zusammenhang gesehen werden können. Damit wird der Übergang des Bildes vom Seheindrück zur komplexen Wahrnehmung markiert. 
Farbe:
Die Konzentration auf die Zerlegung und Neukonstruktion der zentralen Gegenstände hatte weitreichende Folgen für die Bildgestaltung. Sie führte zur Reduktion der Farbskala auf wenige Grau-, Blau- und Ockertöne, die sich relativ gleichmäßig im Bild verteilen. Der Grauwert wird wichtiger als der Farbton. 
Perspektive:
Irritationen entstehen selbst dort, wo ein perspektivisch richtiger Bildraum suggeriert wird. Die unlogischen Schatten lassen Inversionen entstehen, Gleichzeitigkeiten von konvex und konkav. 
Simultaneität:
Die geöffnete Form verschmilzt über Facetten Figur und Grund, da Farbe in die nbenachbarte Form weiter geführt wird. Die Einzelteile der Violine sind so aus ganz unterschiedlichen Blickwinkel gleichzeitig zu sehen. Damit wildert die Malerei in den Möglichkeiten der Plastik, die wir beim Umschreiten in einzelnen Wahrnehmungsfetzen wahrnehmen, die sich überlagern und sich so zu einem räumlich differenzierten Gesamteindruck ergänzen. 
Spiel mit Raumillusionen:
Der Schlagschatten des Nagels und das umgeknickte Eck der benachbarten Form sind ironischer Verweis auf die Einheit des illusionistischen Bildraums, wie er seit der Renaissance nahezu unwidersprochen die Bilder beherrschte. Der augenzwinkernde Verweis auf das Trompe-l’œil ist ein letzter Reflex des überkommenen Raumkonzepts. 
Facetten:
Die bauchige Form des Krugs ist in ebene Bruchstücke, in Facetten zerlegt worden, deren Öffnungen, Passagen, die Farbe in die angrenzende Form hinein laufen lässt. Der Gegenstünd wird so untrennbar mit dem Grund verschmolzen. 
Dies wird im ungegenständlichen Umfeld noch deutlicher. Scheinbar lösen sich hier Körper und Flächen aus dem Bildgrund. 
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